Bei der Beerdigung meines Großvaters fühlt sich die 16-jährige Georgina allein, während ihre Familie um das mickrige Erbe von einem Dollar trauert. Doch als ihr ein Fremder eine geheime Nachricht gibt, wird Georgina in ein Geheimnis verwickelt, das nur sie lösen kann.
„Ich stand neben dem Grab, die Hände in den Taschen meiner zu kleinen schwarzen Robe, und lauschte der tiefen Stimme des Priesters, die sich mit dem Flüstern des Windes vermischte.
Es war der traurigste Tag meines Lebens, doch alle anderen Familienmitglieder schienen mehr damit beschäftigt zu sein, einander anzusehen, als den Verlust ihres Großvaters zu betrauern.
Ich konnte ihre Bitterkeit spüren, dick wie Sirup, die in der kühlen Oktoberluft hing. Ein Dollar. Das war alles, was uns Opa in seinem Testament hinterlassen hatte, und sie waren wütend. Und ich? Ich war nicht wütend. Einfach … leer.
Opa hätte nicht gehen sollen. Sie war die einzige Person, die mich nicht als hochnäsiges Kind oder ignorierten Außenseiter sah, sondern als mich selbst. Er hatte mich in seinem Haus willkommen geheißen, als sich sonst niemand darum kümmerte.
Ich betrachtete die Blumen auf seinem Sarg. Ich hatte ihm eine rote Rose mitgebracht, die zwischen den weißen Gänseblümchen, die alle anderen auf den Sarg gelegt hatten, hervorstach.
„Ein Dollar“, zischte meine Tante Nancy hinter mir. „Ein verdammter Dollar! Dieser Mann war reich, und das hinterlässt er uns?
Onkel Vic lachte bitter. „Wirklich? Ich schwöre, dieser böse alte Mann hat das mit Absicht getan.“
„Typisch Papa“, murmelte Mama und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er hatte immer Favoriten, und Georgina war sein kleiner Liebling. Es gibt definitiv etwas über sie, das wir nicht wissen.“
Tante Nancys scharfer Blick fiel auf mich. „Was hat er dir hinterlassen, Georgina? Wenigstens etwas? Tun Sie nicht so, als hätten Sie nichts bekommen.“
Ich versteifte mich. «Ich habe das gleiche bekommen wie ihr alle.»
Mamas Finger schlossen sich fester um meine Schulter. „Bist du sicher?“ fragte er leise. „Du warst immer bei ihm. Vielleicht hat er Ihnen etwas anvertraut … Denken Sie gut nach, Georgina. Sie müssen mit Ihrer Familie teilen, was er Ihnen hinterlassen hat.»
Erinnerungen kamen hoch – Opas lustige Geschichten von lange verschollenen Schätzen und den Iris-Bonbons, die er immer in seiner Manteltasche hatte.
Manchmal zwinkerte er mir zu und sagte: „Eines Tages, Kleines, werde ich dir einen Schatz hinterlassen. Ein wahrer Schatz! Aber es war nur ein Spiel, ein Scherz zwischen uns.
Ich schüttelte den Kopf und stellte mir den Sarg noch einmal vor. „Opa gab mir seine Liebe, seine Geschichten und einen Ort, der sich mehr wie ein Zuhause anfühlte als der, an dem ich aufgewachsen bin. Diese Dinge sind mehr wert als Geld, und ich kann nicht…»
„Das alles interessiert niemanden!“ Mama antwortete. „Denk darüber nach, Mädchen! Was ist mit all seinem Geld passiert?
Ich zuckte die Achseln. In Wirklichkeit wusste ich die Antwort auf seine Frage nicht und es war mir auch egal. Opa war nicht mehr da. Er war mein Vertrauter, mein Zufluchtsort, mein Freund. Ich hatte den wichtigsten Menschen der Welt verloren und für sie zählte nur, dass sein Tod einen Preis hatte.
„Sie weiß etwas“, murmelte Vic laut genug, dass ich es hören konnte.
Ihre Stimmen vermischten sich und beschuldigten sich gegenseitig, als könnten sie mir Geheimnisse entlocken, wenn sie es wirklich versuchten. Aber ich hatte kein Geheimnis, mit dem sie mehr Geld verdienen könnten.
Als sie merkten, dass ihnen kein Glück bevorstand, wandten sie sich vom Grab ab und gingen weg. Ich erinnere mich noch an ihre Auseinandersetzungen, als sie weggingen und sich gegenseitig wie Geier angriffen. Es hat mich angewidert.
„Das musst du sein, Georgina.“
Ich blickte auf und sah eine Frau in den Sechzigern mit freundlichen Augen und einer abgenutzten Ledertasche über der Schulter. Sein Lächeln war sanft und zurückhaltend, als wüsste er etwas, was die anderen nicht wissen.
„Ich war mit deinem Großvater befreundet“, sagte sie und beugte sich zu uns, als wären wir Komplizen. „Er hat mich gebeten, Ihnen das zu überbringen.“
Bevor ich antworten konnte, drückte er mir ein gefaltetes Stück Papier in die Hand und flüsterte: „Lass das niemanden sehen, vor allem nicht deine Familie.“
Ihre Anwesenheit schien surreal, beinahe traumhaft, und bevor ich etwas sagen konnte, verschwand sie und wurde von der Menge der Leidenden verschluckt. Mein Herz raste, als ich die Notiz öffnete.
«Schublade 111 – Südbahnhof.»
Einen Moment lang stand ich still, die Worte verschwammen vor meinen Augen. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Opas „Schatz“. Ein wildes, unangebrachtes Lachen entrang sich meiner Kehle, aber ich konnte nichts dagegen tun. Schließlich machte er keine Witze.
In dieser Nacht lag ich im Bett und starrte an die Decke. Die Notiz war wie ein Geheimnis unter dem Kissen versteckt. In meinem Kopf hallte die Stimme meines Großvaters wider, verspielt, aber zuversichtlich: „Schublade Nummer 111 … Da sind die Schätze, Kleines!“
Eine Last wuchs in meiner Brust, etwas zwischen Schmerz und Hoffnung. Was wäre, wenn es nicht nur eine Geisterjagd wäre? Was wäre, wenn Opa mir tatsächlich etwas hinterlassen hätte, versteckt an einem unzugänglichen Ort?
Dieser Gedanke verfolgte mich, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Ich musste herausfinden, was in dieser Schublade versteckt war.
Am nächsten Morgen rief ich ein Taxi. Es war das Erste, was ich tat, als ich aufwachte. Als ich langsam an der Küche vorbeischlenderte, hörte ich, wie Mama etwas über Opas Testament ins Telefon murmelte. Wahrscheinlich suchte sie bei jedem, der ihr zuhörte, Mitgefühl oder Geld.
Ich biss die Zähne zusammen und verließ das Haus: Die frische Morgenluft traf mich wie ein Schlag.
Die Fahrt zum Südbahnhof kam mir wie die längsten 20 Minuten meines Lebens vor.
Meine Knie zitterten vor Nervosität, als das Taxi durch enge Gassen, vorbei an Graffiti-bedeckten Wänden und neu eröffneten Cafés raste. Der Fahrer sah mich wortlos im Rückspiegel an.
Als wir endlich am Bahnhof ankamen, stieg ich aus und bat ihn, auf mich zu warten. Als ich den Bahnhof betrat, hielt ich den Zettel in der Hand.
Der Geruch von Diesel und Rosinen-Popcorn lag in der Luft. Die Leute eilten in alle Richtungen – Passagiere, Reisende, Fremde, die es eilig hatten, irgendwohin zu gelangen.
Ich blieb am Eingang stehen und fühlte mich plötzlich klein und fehl am Platz. Doch dann hallte in meinem Kopf erneut Opas Stimme wider, zuversichtlich und beruhigend: „Der wahre Schatz, Kleines.“
Ich holte tief Luft, ging zu den Aktenschränken und lauschte meinem Herzschlag. An der Wand hingen Reihen von Metallschließfächern, alle gleich: grau, verbeult und leicht verrostet.
Meine Augen überflogen die Zahlen, bis ich die Zahl 111 fand.
Ich griff in meine Tasche und nahm den gefalteten Zettel heraus. Der Schlüssel war auf der Rückseite befestigt. Mit zitternden Fingern löste ich ihn und steckte ihn in das Schloss.
Für einen Moment blieb der Schlüssel hängen und ich begann, mir Sorgen zu machen. Dann – klick! Das Schloss wurde entriegelt und die Tür öffnete sich.
Darin fand ich eine Reisetasche. Es war alt, verblasst und schwer. Meine Hände zitterten, als ich es öffnete.
Die Tasche war voller Bargeld. Kabelbinder auf Kabelbinder!
Ich war sprachlos vor Erstaunen. Das kann doch nicht wahr sein, oder? Ich griff in die Tasche, zog ein Band heraus und blätterte in frischen Hundert-Dollar-Scheinen. Es mussten mindestens 150.000 Dollar sein.
Und in der Tasche befand sich noch eine Notiz, in Großvaters Handschrift geschrieben:
„An meine geliebte Enkelin, alles, was ich gespart habe, gehört jetzt dir. Nimm es und lebe frei, Kleines. Vielleicht erkennen andere Familienmitglieder deinen Wert nicht, aber ich habe immer an dich geglaubt.“
Tränen trübten meine Sicht und ich drückte die Nachricht mit einem Kloß im Hals an meine Brust. Es ging nicht nur um Geld. Es war Freiheit – eine Flucht.
Opa wusste immer, wie sehr ich es brauchte, dieser Familie zu entkommen. Und jetzt hatte er mir genau das gegeben, was ich brauchte, und alle anderen getäuscht!
Ich schloss die Tasche, warf sie mir über die Schulter und verließ das Bahnhofsgebäude, mein Herz schlug im Takt meiner Schritte.
Die Morgensonne begann gerade durch die Wolken zu brechen und tauchte alles in ein sanftes, goldenes Licht. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich mich … leicht.
Während der Taxifahrt schaute ich aus dem Fenster und beobachtete, wie die Stadt zum Leben erwachte. Jetzt hatten ich neue Möglichkeiten. Keine stickigen Familienessen mehr, kein Ignorieren oder Zweitklassigbehandeln mehr, kein Sündenbock mehr.
Ich hätte gehen können. Ich könnte etwas Neues aufbauen.
Der Gedanke machte mir gleichermaßen Angst wie er mich erregte, doch tief in meinem Inneren klang Opas Stimme: „Lebe frei, Kleines.“
Als das Taxi vor meinem Haus hielt, traf ich eine Entscheidung. Ich wäre nicht geblieben. Nicht eine Minute lang!
Ich habe das Haus nicht einmal betreten. Ich schnappte mir mein Telefon, buchte ein Ticket zu einem beliebigen Ziel und sagte dem Fahrer, er solle direkt zum Flughafen fahren.
Mit dem Sack auf meinen Knien und der Notiz von Opa ordentlich in meiner Tasche verstaut, lächelte ich zum ersten Mal seit Tagen.
Ich war frei. Und zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich genau, was das bedeutete. »